Helmut Kohl by Henning Köhler
Autor:Henning Köhler [Köhler, Henning]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Bastei Entertainment
veröffentlicht: 2015-03-29T16:00:00+00:00
Das erste Kanzlertief 1985
Nach Wochen der politischen Hochspannung kam der Spannungsabfall. Die medialen Auseinandersetzungen um den Präsidentenbesuch in Bitburg hatten zeitweilig ein Ausmaß angenommen, dass sogar der Sturz des Kanzlers möglich schien. Zugleich aber hatten ihm die ausgesprochen positiven Zustimmungswerte in der Bevölkerung zum Besuch des amerikanischen Präsidenten im Konzentrationslager Bergen-Belsen und auf dem Soldatenfriedhof von Bitburg deutlich gemacht, dass die große parteiübergreifende Mehrheit der Deutschen solche Gesten billigte und diese politischen Akte keineswegs ablehnte.
Aber die hohen Umfrageergebnisse waren nur die eine Seite. Für politisch Interessierte, aber nicht religiös orientierte Menschen wirkte die Vorstellung von der Versöhnung über Gräbern fremd und unbehaglich. Es entsprach nicht mehr ihrem Lebensgefühl. Hinzu kam, dass der Kanzler bei alldem keine glückliche Figur machte. Schließlich hatte die Weizsäcker-Rede vom 8. Mai – die Botschaft der Versöhnung bei aller Anerkennung von Schuld – für Kohl äußerst ungünstige Effekte. Eine solche auf Wirkung berechnete Präsentation war ihm selbst nicht möglich.
Eine ganz andere Sache als die Billigung der Versöhnungspolitik war jedoch die Zustimmung zur Partei des Kanzlers bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen, die nur wenige Tage später, am 12. Mai 1985, stattfanden. Optimistische Einschätzungen im Vorfeld des Reagan-Besuches hatten sogar mit der Möglichkeit gerechnet, dass das internationale Flair eines solchen Ereignisses positive Auswirkungen auf die Wahlen haben könnte. Das waren jedoch eitle Hoffnungen, denn die Wahl endete mit einer schweren Niederlage für die Union. Die SPD errang die absolute Mehrheit, die CDU fiel auf 36,5 Prozent zurück.
Die Agitation der Medien gegen Bitburg und Kohl hatten mit dem Wahlausgang wenig zu tun. Selbst der »Spiegel« verzichtete darauf, in Richtung Bitburg nachzutreten. Das Magazin führte den SPD-Erfolg vornehmlich auf die Wahlkampfstrategie des neuen Politstars Bodo Hombach zurück.
Die Sitzung des Bundesvorstandes am Tag nach der Wahl stand unter Hochspannung. Es wimmelte von Medienvertretern, was Kohl zu einem ungewohnten Ausbruch veranlasste: »Ich bin nicht gewillt hinzunehmen, das Redakteure und Journalisten an der Tür stehen und die Sitzung abhören.« Noch mehr empörte ihn, dass Mitglieder des Vorstands Mitgeschriebenes an die Presse weitergaben. Er hatte sogar »konkrete Vorstellungen, wo die Quelle« liege.636 Wer konnte das anders sein als Kurt Biedenkopf, der in den Sitzungen ständig schrieb und nach ihrem Ende die wartenden Journalisten empfing?
Das Debakel im größten Bundesland veränderte schlagartig die politische Landschaft. »Kohl in Gefahr«, titelte »BILD« zwei Tage später und wusste noch mehr zu berichten: »Nachts dachte Kohl über sein Schicksal nach.«637 Das war charakteristisch für den Umgang mit dem Kanzler: In der Sache konnte er für die Niederlage kaum verantwortlich gemacht werden, aber das Faktum allein reichte aus, um sofort auf ihn zu zielen. Die bisher unter der Decke gehaltene innerparteiliche Missbilligung begann sich Luft zu machen. Die Kritik zielte hauptsächlich auf zwei Punkte. »Führungsschwäche« lautete der vornehmlich aus Bayern kommende Vorwurf, zu viel Rücksichtnahme auf die FDP der andere. Im vielstimmigen Chor der Kritiker war aber von einem möglichen Nachfolger noch nicht die Rede. Nur der in der Union gut vernetzte und als Gegner Kohls erfahrene Karl Feldmeyer von der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« hatte bereits einen Kandidaten im Blick, und zwar den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth.
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